3 Zeitdiebe

Dem ersten Zeitdieb ist man vielleicht schon beim Lesen dieser Zeilen begegnet: Man begann zu lesen, doch dann zieht es den Blick vom Text zum Bild und von dort aus der Zeitschrift zu etwas Unerledigtem, Unerfülltem im Umkreis. Durch Unkonzentriertheit schmilzt der Zeitreichtum dahin; weil man viele Dinge mit
halber Aufmerksamkeit und womöglich gleichzeitig betreibt, vermag nichts zum Abschluss zu kommen, nichts zu reifen, ist man überall und nirgends, muss immer wieder von Neuem die Aufmerksamkeit sich sammeln – und das braucht Zeit. Der zweite Zeitdieb ist der Stress. Wund von einem Zuviel an Veränderung, verliert man die Übersicht, versucht immer schneller Aufgaben zu erledigen und wird dabei immer unproduktiver. Sobald man sich besinnt, vielleicht mit fremder Hilfe Ordnung in den Lebensfeldern von Beruf, Familie und innerem Leben schafft, wird man vom Opfer wieder zum Gestaltenden der Zeit.
Zum dritten Zeitdieb führt der Weg durch die umgekehrte, positive Frage: «Wann schien mir die Zeit still zu stehen?». Wann galt Schillers Ausspruch «Dem Glücklichen schlägt keine Stunde»? Als Sorgen und Sehnsüchte stumm wurden und man ganz in der Gegenwart engagiert war. Und wie war das möglich? Durch
Interesse an dem, was hier und jetzt geschieht, wird man antworten. «Und wie gewinnt man das Interesse?», mag man weiterfragen und gerät zu der einfachen und zugleich großen Antwort: durch Liebe. Tatsächlich, die treibende Kraft hinter dem Interesse, hinter der Empathie zum Hier und Jetzt ist die Liebe. Menschen, die lieben, haben alle Zeit der Welt. Was man liebt, dem widmet man sich mit seiner ganzen Existenz. Mit einem Male verlieren Vergangenheit und Zukunft, verlieren Sorgen und Sehnsüchte ihre Kraft. Was zählt, ist dieser Ort, der heute allzu leicht verschwindet, unfassbar wird: die Gegenwart. «Der Liebe Sehnsucht fordert Gegenwart», sagt Goethe und meint damit, dass überall, wo es gelingt, das, was einem gegenübersteht, was man gerade tut, gerne
zu tun, Frieden mit der Gegenwart geschlossen wird.“
Wolfgang Held, a tempo, 2013

Einen Kommentar schreiben:

Es kann ein paar Tage dauern, bis Ihr Kommentar sichtbar wird.