Eine kleine Geschichte

Die Geschichte ist zwar klein, aber der Weg bis hierhin war steinig und lang. Zuerst wurde sie mir von meinem Freund Jürg erzählt und von da an hat sie mich nicht mehr losgelassen. Immer wieder habe ich nach einer Quelle gesucht und nun hat Jürg für mich diese Mitschrift gefunden. Bei der Heinrich Jacoby – Elsa Gindler – Stiftung in Berlin gibt es ein Tondokument. Alexander Granach erzählt die Geschichte. Wenn ich auch davon eine Kopie habe, wird die kleine Geschichte auch hier hörbar.

Eine kleine Geschichte, die Alexander Granach in einem Kurs bei Heinrich Jacoby erzählte.

Im kleinen Städtchen Chelm, in Polen, lebte ein sehr armer Mann, Mojsche Mendels, der eine große Sehnsucht hatte: er wünschte sich einmal in seinem Leben in Warschau zu sein. Er hatte eine Frau und sechs Kinder und eines Tages machte er sich auf die Reise. Er ging frühmorgens um sechs Uhr weg, mit der Landstrasse, die nach Warschau führt. Als es Abend wurde, legte er sich schlafen. Damit er aber den Weg nicht verfehlte, legte er sich mit den Füßen in der Richtung, die nach Warschau führt. Er schlief ein, und träumte was und drehte sich um. Am nächsten Morgen wachte er auf, und richtig, er wußte die Richtung nach Warschau ganz genau. Er liegt ja mit den Füßen in der Richtung nach Warschau. Und so stand er auf und ging nach Warschau. Er ging einen ganzen Tag, und gegen Abend sieht er mit einem Mal Warschau. Aber merkwürdig, wie ähnlich doch Warschau zu Chelm ist! Genau dieselbe Kirche an deren Kuppel zwei Ziegelsteine fehlen. Er kommt näher – derselbe Kirchturm, in dessen Kuppel zwei Ziegelsteine fehlen, genau wie in Chelm. Ja der Prellbock, der Grenzstein ist derselbe wie in Chelm und der Hüter dieses Grenzblockes heißt Hayet Treuter, ist heiser, hat eine rote Nase und spricht genau so wie der Wächter in Chelm. Er geht weiter, kommt in die Stadt und sieht – was ist denn das? Der Marktplatz sieht genau so aus wie in Chelm: Links der Frisörladen, der Bäcker, der Krämer. „Da bin ich doch neugierig“, sagt er und geht weiter, „ob wohl die dritte Gasse so aussieht wie meine Gasse in Chelm? Richtig, sie sieht genau so aus!“ Und da steht ein Haus, und das sieht genau so aus wie sein Häuschen, in dem er wohnt in Chelm. Er geht rein und da ist eine Frau, da sind sechs Kinder. Die Frau heisst Sue, genauso wie seine Frau in Chelm, die Kinder heissen Mojsche, Laschaja, Lajanka, Mojankalo, Veralo, Ruleika und so weiter, genau so wie seine Kinder in Chelm. Und noch mehr : Sie nennen ihn Papa. Sie sagen zu ihm Vater und die Frau frägt ihn: „Du, sag mal, hast du schon die drei Rubel, die wir brauchen für Schabes?“- genau wie seine Frau in Chelm! Und er nimmt raus die Kasse, geht zum reichen Meier und – es ist ein reicher Meier da wie in Chelm und er sagt: „Herr Meier, wollen Sie mir leihen drei Rubel auf Schabes und Feiertag?“ Und Meier sagt: “Du Hund, du verfluchter. du arbeitest nicht, zum letzten Mal leih ich dir heute ein Rubel fufzig“ – genau so wie der Meier in Chelm spricht er zu ihm und gibt ihm den Rubel fufzig. Und er bringt es nach Hause und die Frau macht Schabes, Und er bleibt über Schabes da, und bleibt Sonntag und Montag und Dienstag und Mittwoch, er blieb ein Monat und ein Jahr, ach es war so gemütlich, und sie liessen ihn auch nicht weg. Die Kinder spielten mit ihm wie die Kinder zu Hause, die Frau fluchte wie die Frau zu Hause. Da blieb er da sein ganzes Leben lang – Aber in seinem Herzen, ganz still, wenn er ganz allein war und darüber nachdachte, hatte er eine unheimliche Sehnsucht zurück nach Hause, nach Chelm.