Theaterkritik
„So kapitalistisch wie das Theater führt sich kein mittelständisches Unternehmen auf.
In der selbstreferenziellen Welt der Theaterschaffenden und Theaterkritiker – welche selbst mehr Teil denn kritische Begleiter des Betriebes sind – scheint es mir gelegentlich am Blick von draußen, am Perspektivwechsel zu fehlen. Die wichtigsten Menschen für Theater, so steht es jedenfalls in den schwurbeligen Intendantentexten, seien die Zuschauer, für die ja schließlich Theater gemacht werde. Abgesehen davon, dass mich da gelegentlich arge Zweifel beschleichen, ob Theater wirklich für Zuschauer gemacht wird, hat das Publikum keine Stimme. Man stimmt mitunter mit den Füßen ab, Theaterabos werden gekündigt oder neu erworben. In Publikumsgesprächen geht es über schüchterne Fragen zwischen langen Blöcken Dramaturgen-Sprechs selten hinaus.
Ich möchte hier meinen Blickwinkel als Zuschauer und aus der Perspektive eines Verantwortlichen für ein mittelständisches Unternehmen darzulegen, auch und besonders auf das Theater als Betrieb, als Unternehmen und seine Unternehmenskultur.Unternehmenskultur in deutschen Theatern scheint mir im Wesentlichen autoritäre Führung durch einen Intendanten zu sein, der für den Zeitraum seines Vertrages temporäre Unfehlbarkeit erhielt. Selbstverständlich sieht man sich politisch links, jedenfalls gesellschaftskritisch, will die Fragen der Zeit aufgreifen, will politisch relevantes Theater machen, so oder so ähnlich liest man es in jedem Spielzeitheft. Man reckt die virtuelle Arbeiterfaust, aber für die Führung des eigenen Unternehmens hat die politische Grundhaltung keine Relevanz. Da wird in bester CEO-Manier die Produktivität gesteigert, mehr Vorstellungen und Produktionen mit bestenfalls gleichbleibender Ensemblestärke: Wenn es letzte Spielzeit ging, dass ein Schauspieler zehn Stücke parallel macht, dann wird es in der nächsten Spielzeit doch auch mit zwölf Stücken gehen. Da lässt man sich als Intendant gerne feiern (oder tut es im Zweifelsfalle gleich selbst), dass man noch nie so viele Vorstellungen wie in der abgelaufenen Spielzeit hatte und noch nie so viele Zuschauer erreichen konnte und gelobt «Kostendisziplin» bei weiter steigender Produktivität. Kapitalistische Ausbeutung ist das nur, wenn es die anderen tun.
Die Schere öffnet sich immer weiter. Auf der einen Seite ist das Prekariat der Schauspieler, die von Vertragsverlängerung zu Vertragsverlängerung hoffen (sofern sie nicht ohne¬dies «frei arbeiten», ein netter Ausdruck für die aparte Mischung aus Hartz IV, berufsfremden Gelegenheitsjobs und gelegentlichen Stückverträgen). Und auf der anderen Seite die Riege der Jet-Set-Regisseure, denen an allen Häusern der rote Teppich ausgerollt wird und deren üppige Gagenforderungen gerne bedient werden. Das kann man ja alles akzeptieren, das Theater als Spiegelbild der Gesellschaft, aber dann muss man das auch sagen und sich nicht in heuchlerischer Verlogenheit als Kapitalismuskritiker stilisieren.
Technik, Maske, Verwaltung, da wird fleißig gearbeitet und zumeist schlecht verdient, aber hier gelten die Regeln eines normalen Betriebes, Arbeitsverträge, Kündigungsschutz, Arbeitszeitgesetz und all diese Rand- und Rahmenbedingungen, die für Unternehmen eben ganz selbstverständlich sind. Für Schauspieler gilt das alles nicht. Verträge werden so geschlossen, dass der nachfolgende Intendant das bestehende Ensemble möglichst rückstandsfrei entsorgen kann. Bevor Unkündbarkeit – nach 15 Jahren – droht, wird ein Vertrag flugs gekündigt oder zumindest unterbrochen, aus «künstlerischen Gründen» selbst¬verständlich. Ensembles werden immer jünger, um mit Anfängergagen Geld zu sparen. Wenn man tatsächlich mal eine «alte Frau» jen¬seits der 40 braucht, kann man die ja als Gast zukaufen, der Markt an frei arbeitenden Schau¬spielern ist riesig, die Bedingungen können fast beliebig diktiert werden (gerne: Bezahlung pro Aufführung, Proben unbezahlt).
Die Grundlagen abendländischer Kultur und Höflichkeit dürfen hintangestellt werden, wenn es um den Umgang mit Schauspielern geht. Der neue Intendant, der erstmals «sein» neues Haus betritt und die Kontaktaufnahme dort angetroffener Mitarbeiter quittiert: «Bleiben Sie ruhig sitzen, ich interessiere mich nur fürs Mobiliar!» Die Praxis, auf Bewerbungen von Schauspielern gar nicht zu reagieren, noch nicht einmal mit einer Absage. Das Ignorieren von Gesprächswünschen, Regieren nach Gutsherrenart, der Besetzungszettel kommt per Mail und ohne Kommentar. Die Drohung mit der Nichtverlängerung, es sei denn, die Schauspielerin jenseits der 35, zu der einem nach jahrelanger Zusammenarbeit urplötzlich «künstlerisch nichts mehr einfällt», sei bereit, wieder auf die Mindestgage zurückzugehen. Das schamlose Bedrohen und Verunglimpfen von Darstellern, wenn diese auf ihren ohnedies spärlichen Rechten bestehen. Die Frechheit, einer schwanger gewordenen Schauspielerin hinzuwerfen, sie mache jetzt wohl «einen auf Sozialfall». Die Kultur der Zuträgerschaft, das Ermuntern von Denunziantentum in schöner Tradition vergangen geglaubter Stasi-Zeiten.
Einhalten vereinbarter Probezeiten? Ach, wenn der berühmte Regisseur gerade nebenan an der Oper inszeniert, dann kann er ja zwischendrin auch am Schauspiel ein Stück machen, die Schauspieler sind auf Abruf jederzeit verfügbar. Vereinbarkeit von Familie und Beruf? Nicht so wichtig, denn wer kann von einem Schauspielergehalt schon eine Familie ernähren? Ohnedies können – Theater muss authentisch sein! – viele Rollen am besten von Laien gespielt werden.
Ich gehe seit fast 40 Jahren ins Theater, erinnere mich an beeindruckende Bilder, an dramatische Abende, an berührende Geschichten, an wunderbare Inszenierungen, starke Emotionen und, ja, auch an gute Unterhaltung. Ich wünsche mir, dass dieses sehr spezielle deutschsprachige Theater Zukunft hat. Dazu braucht es nicht nur Geld, sondern auch Wertschätzung, Führungskultur und den respektvollen Umgang mit den Künstlern, die Abend für Abend verkörpern, was wir Zuschauer sehen wollen.
Es zeugt von hoher Kunst des Doppeldenkens, gleichzeitig Kapitalismuskritik zu üben und seinen eigenen Laden in so entspannter Frühkapitalisten-Manier zu führen, wie es in anderen Unternehmen schon lange nicht mehr möglich und üblich ist. Das Unternehmen, für das ich Verantwortung trage, wäre schon längst pleite, würden wir unsere Leistungsträger so behandeln, wie das die Theater mit den ihren tun.“
Christoph Eingartner, Leserbief, Theater heute, 2/2013, Chefarzt der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie und Ärztlicher Direktor der Gesundheitsholding Tauberfranken mit circa 2.000 Mitarbeitern.