Wolf Biermann
Nach sehr, sehr langem Suchen habe ich ein Märchen von Wolf Biermann wiedergefunden. Vor 30 Jahren habe ich die Geschichte gehört (eine Langspielplatte mit Liedern und Erzählungen von Wolf Biermann). Vor 10 Jahren hat ein Freund die Geschichte vom Mädchen mit dem Holzbein seinem Vortrag auf einem
Kongress zum Thema Be- und Verhinderung vorangestellt. Seitdem suche ich nach einer Textquelle. Und hier mein Fund:
Das Märchen vom Mädchen mit dem Holzbein
Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Marie, und die hatte nur ein Bein. Damit sie laufen konnte, mussten ihre Eltern ihr vom alten Tischler ein kleines Holzbein machen lassen.
Mit diesem Holzbein konnte Marie ganz gut gehen. Und die Kinder hörten sie immer schon von weitem die Straße lang kommen.
Natürlich wuchs Marie jedes Jahr ein schönes Stück größer, und der Vater ging mit Marie jedes Jahr zu Ostern einmal zum alten Tischler und bestellte ein neues längeres Holzbein für seine Tochter.
Das wurde aber anders, als Marie ein junges Mädchen wurde.
Alle jungen Mädchen gingen mit ihren Freunden zu Ostern spazieren und fingen sich in den Parks und drückten sich heimlich vor Liebe die Hände heiß;
aber die Holzbein-Marie fand keinen Freund zum Liebhaben, und dabei war sie vielleicht schöner und klüger als die anderen.
Aber das klapprige Holzbein störte. Da hat Marie Tag und Nacht geheult und mochte überhaupt nicht mehr auf die Straße gehen mit ihrem klapprigen Holzbein.
Ihre Eltern wurden ganz traurig und wussten keinen Rat.
Da kam eines schönen Tages der alte Tischler, und unter dem linken Arm trug er ein neues Holzbein, und in der rechten Hand trug er einen Vogelbauer.
»Liebe Marie«, sagte der alte Tischler, »du bist jetzt 18 Jahre alt, und es wird allerhöchste Zeit, dass du einen guten Mann findest.
Ich habe für dich das schönste Holzbein von der Welt gebaut. Du kannst damit genauso gut laufen wie mit einem richtigen Bein, und es klappert nicht auf der Straße; kein Mensch wird merken, dass du ein Holzbein hast, und ich glaube, du wirst mit diesem neuen, wunderbaren Bein sogar tanzen können.«
Und er wickelte das neue Bein aus; es war so schön wie ein richtiges Bein, und noch viel schöner; denn der alte Tischler öffnete jetzt in dem neuen Holzbein ein kleines Loch, und in dem Loch war ein kleines Vogelnest. Dann holte der Tischler aus dem Vogelkäfig eine kleine zahme Nachtigall, die so schön singen konnte, daß alle jungen Männer – aber auch ältere – gleich in Marie verknallt waren. Diese kleine Nachtigall zog in das kleine Nest in Maries neues Holzbein ein, und dann ging Marie zum Tanzen. Natürlich wurde kein Mädchen so oft aufgefordert wie Marie.
An diesem Abend lernte Marie einen jungen ein junger Mann kennen.
Sie trafen sich immer öfters und verliebten sich ineinander.
Und sie wollten heiraten.
Die Hochzeit fand statt. Es wurde gut gegessen und getrunken und getanzt.
Und da Marie auch etwas Wein getrunken hatte – und ihr Bräutigam noch viel mehr -, passierte es, dass sie bei einem wilden Tanz ausrutschten und der Länge nach hinknallten. Da lag sie nun, und ihr neues schönes Holzbein war abgerissen, und die kleine Nachtigall flog ängstlich durch das Zimmer.
Welch ein Aufschrei unter den Hochzeitsgästen und natürlich bei den Eltern des Bäutigams!
Der junge Mann schämte sich sagte: „Sie ist zwar die Schönste und die Klügste und die Liebste von allen; aber eine Frau mit einem Holzbein darf ich wohl nicht heiraten?«
„Das musst du schon selbst wissen«, antwortete der Vater böse.
Der junge Mann ging zu Marie und sagte ihr, dass er sie nun doch nicht heiraten kann mit ihrem Holzbein.
Und kaum hatte er diese Worte gesprochen, da verwandelte sich sein Kopf in einen Holzkopf. Und da sein Kopf aus Holz war, wuchsen ihm anstelle von Haaren Stroh.
Das Holzbein des Mädchens aber verwandelte sich in ein richtiges Bein aus Fleisch und Blut. Und das alles geschah so schnell, dass keiner was dazu sagen konnte. Ich auch nicht. Ich bin schließlich dabei gewesen, habe alles mit eigenen Augen gesehen.
© 1979 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Danke schön dafür 🙂 Der wunderbare Herr Biermann!