Der Kunde ist König
„Der Blick des Großhändlers gleitet über die Paletten mit Avocados. Nicht anders als der Autoverkäufer, der den Kratzer im Lack sucht, sondiert der Einkäufer die Früchte auf eventuelle Makel, denn mit ihnen sind die Lebensmittel beinahe unverkäuflich. Findet er Flecken oder schrägen Wuchs, geht die Lieferung zurück, weil die Kunden – wir Kunden – Vollkommenheit erwarten. Statt einer kleinen Gewinnmarge hat der Obst- und Gemüselieferant das Nachsehen.
Während beim Kauf einer Glühbirne, eines Radios oder Fahrrads fehlerfreie Norm sinnvoll ist, man über die ganze Welt hinweg gleiche Leistung, identische Maße erwarten darf, gehören zum Leben und Lebensmittel Vielfalt und Unvollkommenheit. Technik ist universell, das Leben immer speziell.
‚Der Kunde ist König‘, das ist die Losung des Handels. Ein König ist nur dann ein König, wenn sein Volk ihn liebt, sonst ist er Tyrann. Was muß also der Kunde tun, um König und nicht Tyrann zu sein, was tun, damit ihm Zuneigung und nicht die List des Handels zufließt, keine Panscherei geschieht?
Die Antwort ist in tausend Geschichten erzählt worden: Er sollte Großzügigkeit und Strenge weise verteilen, dann verdient der die Krone, dann verdient er gute, gesunde Lebensmittel. Er sollte das Joghurt mit abgelaufenem Datum wählen, die Banane mit Schönheitsfehler in den Wagen legen, bereit sein, den angemessenen Preis zu zahlen, er sollte aber zugleich majestätisch streng sein, wenn es um Freilandhaltung, um pestizid- und gentechnikfreien Anbau geht. Dann ist er ein König und wir können auf die Tyrannei von hundert weiteren Vorschriften verzichten. Statt Werbung und Täuschung wächst Vertrauen zwischen Konsument und Produzent, und aus Vertrauen schließlich Brüderlichkeit.“ Wolfgang Held, DAS GOETHEANUM, Nr. 9, März 2013